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Ein Eisenbahnwaggon, er sieht ganz anders aus, verglichen mit den übrigen auf den Stationen: goldene Vorhänge umrahmen die Fenster des Waggons, verkleinern meinen - nach draußen gerichteten - Bildausschnitt.In den Abteilen ist es sehr eng, ich kann den Raum nur langsam abtastend erkunden. Ich sehe Vitrinen, habe Mühe scharfzustellen, um die vielen kleinen verschiedenen Boxen, die sich in ihnen befinden focussieren zu können. Mich stört das Glas, es spiegelt unscharf sich draußen rasch bewegende Bilder, sie erschweren die Sicht auf die Vielfalt der Farben, die Konturen sind schwer zu erkennen. Auf dem langen schmalen Gang kann ich meinen Blickwinkel vergrößern, ich beobachte meine Begleiter und die vielen Menschen, die langsam oder schneller durch den Waggon gehen. Wenn sie stehenbleiben, um sich die vielen Boxen anzusehen oder mit meinen Begleitern zu sprechen, kann ich sie längere Zeit betrachten. Es ist laut in dem Waggon, es ist immer der gleiche Klang, dieser vermischt sich sich mit der Sprache der Menschen.
Menschen würden sagen:
Dieser nostalgische Schlafwagen der Russischen Eisenbahn mit den goldenen Vorhängen sei luxuriös. Die durchsichtigen Vitrinen mit den Boxen würden Verwunderung und Unverständnis auslösen. Menschen würden die Software - zwei russische Schlafwagenbegleiter - und all jene Tools, die den Schlafwagen als Transportmittel ausmachen, als benutzerfreundlich einstufen. Zugegeben, das würde notwendig sein, um so viele Grenzen zu durchbrechen. Die Reise würde eine Konfrontation von unterschiedlichen Kulturen sein, eine Unterschiedlichkeit, die heute ideologische Grenzen markieren.
"boxes"
Transgression ist ihre Bestimmung, die boxes sind Inhalt und Transport-Tool gleichzeitig, sie sind Zeichen und Träger ihrer Herkunft. Sie sind "mail" und "boxes", sie sind Botschaft und Tool, ihr Bestimmungsort ist erneut eine Mail-Box.Die "boxes" des Mail Art Projektes WOMEN/Beyond Borders, aus unterschiedlichen kulturellen Räumen stammend transgredieren nun gemeinsam netzwerkartig zwischen ihren Herkunftskulturen. Sie befinden sich nun auf der Reise von Graz nach St. Petersburg; 8 Grenzen sollten überschritten werden. Begleitet von der Videokamera, drei Künstlerinnen, einer Autorin, einem Fotografen, zwei EDV-Experten, zwei russischen Schlafwagenbegleitern, einem Laptop mit Internetanschluß.
Automatic record mode
Ich arbeite autark, oftmals bin ich bei meiner Arbeit völlig auf mich gestellt, befinde mich versteckt auf Sitzplätzen oder sonst irgendwo, das war aber nicht immer so. Zu Beginn der Reise haben mich die Menschen angelächelt, direkt in meine Optik. Das hat sich später geändert. Sie gehen an mir vorbei - manchmal kann ich nicht mehr scharfstellen, so nah drücken sie sich vorbei - bleiben stehen und sprechen mit meinen Begleitern. Viele haben die gleichen Schirmkappen, außergewöhnlich scharfkantig geformt, auf dem Kopf. Ich sehe auch immer wieder die gleiche Kleidung mit den gleichen Farben und glänzenden Metallteilen.
In-Grenzen-Weisen
Wegen des strengen Filmverbotes im Grenzbereich und an bestimmten Orten des ehemaligen "Ostens" wurden die Aufnahmen zu einem großen Teil nur nach den Eigengesetzmäßigkeiten der beobachtenden Videokamera, mit "versteckter" Kamera, unkontrolliert starr beobachtend gemacht. Die Kamera befand sich von den Beamten unbemerkt stets im Record-Betrieb. Solche Bilder sind abseits jeglicher subjektiv gestalteten Darstellung.
Klang-Welten
Die Sprache dieser Schirmkappenträger habe ich auf den ersten Stationen - vor dem Hintergrund regelmäßig impulsartig gebrochenen Rauschens - als eine endlose Reihe von Umlauten und Konsonanten gehört, später als eine Sprache von kurzsilbiger, vokaldominanter Klarheit.
Die Monotonie des Klanges des fahrenden Zuges, das Schlagen der Räder - ein klangliches Ikon eines fahrenden Zuges - steht der Fremdheit der jeweiligen Sprache der durchquerten Länder gegenüber.Durch das Nichtverstehen der Sprache reduziert sich diese auf einen prosodischen Klang. Sie wird als rhythmisierte Klangmelodie wahrgenommen, ihr materieller Informationsgehalt reduziert sich auf immaterielle (in Bezug stehende) akustische Ereignisse, auf Klanggestalten, befreit von ihrer Funktion, der Kommunikation.
Indoor
In dem Waggon mit den goldenen Vorhängen sind nur meine Begleiter und ich, immer wieder kommen Menschen. Entweder tragen sie Schirmkappen oder sie gehen nur durch den Waggon und wenden ihre Gesichter den Boxen in den Vitrinen zu. Ich folge ihnen, es ist beschwerlich, es gibt viele Waggons - sie sehen ganz anders aus, verglichen mit dem Waggon mit den goldenen Vorhängen, auch die Menschen sind ganz anders, ich habe Mühe mir ein klares Bild zu verschaffen.
Outdoor
Rasant fliegen die Bilder draußen vorbei, immer wieder unterbrochen von Aufenthalten und Finsternis.Ich kann die Menschen draußen nur für einen Augenblick festhalten, ich verliere sie aus meinem Blick und mein elektronisches Auge ist neuerlich auf der Suche...
Lebensraum und Kunstraum
Die 75 Stunden und 25 Minuten dauernde physikalische Reise (Ankunft mit 12 Stunden Verspätung nach Überwindung etlicher Hürden) ereignet sich gleichzeitig, ineinanderverschoben, wie unberührt nebeneinander, in mehreren realen und zugleich sozialen Räumen. Durch das innere Fortbewegen, das Gehen von einem zum anderen Waggon wird dieses Ineinanderschieben "bewußt"; dieses künstliche Ineinander ereignet sich in einem permanenten Durchfahren außenliegender, unerfahrbarer Räume. Ein Raum ereignet sich zeitgleich im anderen, wird in den anderen hineingestülpt.
Time
Start-time: 29. 8. 1996, 17:52:13 / frame 19. Mein Zählwerk zählt Realzeit. Ich war nicht auf kontinuierlichem Betrieb, auch nicht auf regelmßigem. Ich konnte keine Systematik in der Zeit erkennen. Wahrscheinlich regelten andere Faktoren meine Arbeit. Gespeist wurde ich nur aus der Konserve, frische Versorgung war mir nicht nur fremd, sie war auch gar nicht vorhanden. Die Versorgungseinrichtungen waren mir zwar bekannt, sie waren aber spannungslos, bloß zwei mal versorgte man mich aus solchen Dosen. Einmal bekamen auch meine Begleiter in derselben Zeit etwas zu essen, ein anderes mal sah ich dann seltsame Dinge um mich. Menschen hantierten an Menschen, die Objekte dieser Manipulation sahen nachher ganz anders aus. Im Gegensatz zu mir, ich wurde bei meiner Herstellung ein für alle mal gestylt. Was immer auch geschah, nicht nur die Clock, Stunden und Minuten, auch das Date wechselte.
Dimension Zeit (64'40")
Der vertraute Raum ist Lebensraum der Akteure und Kunstraum. Er ist isoliert und zugleich öffentlich durch die persönliche Konfrontation mit den Betrachtern der sich im Zug befindenden Kunstgegenstände.Dieser durch den "Waggon" isolierte Raum, in dem sich das Leben der Akteure mit den Boxes im Abteil des Waggons abspielt, wird durch das Fortschreiten auf der Dimension Zeit immer vertrauter. Dem gegenüber steht die immer größer werdende "Fremdheit draußen", sie wird gewohnter, aber nicht vertrauter.Die Raumerfahrung ist nicht nur durch die Überwindung physikalischer Distanz gegeben, diese tritt weit hinter jene Dehnung des Raumes, die mit der Distanz zunehmend fremd werdender Kulturen gegeben ist. Sie wird zu einer primr kognitiv bestimmten Raumerfahrung.Das "Überfliegen" der Distanzen und Kulturen in wenigen Stunden mißachtet die Erfahrung beider. Die Erfahrung reduziert sich auf die Wahrnehmung des Raumes des Transportmittels. Das Fugzeug wird zum Analogon der boxes als Transportmittel und nicht des Transportes von boxes. Die Begleitung der Reise im Internet reduziert sich völlig auf die Überwindung von Distanzen. Das Überschreiten der Kulturen lßt sich nicht einmal ahnen. Entgegen dem linearen Verlauf der physikalischen Reise auf Schienen findet die digitale Reise netzwerkartig strukturiert statt. An allen Enden des netzwerkartigen Verbundes der Kommunikation stehen Tools der gleichen Technologie, sitzen Menschen mit den gleichen Erfahrungen im Umgang mit ihnen. Abseits ihrer jeweiligen kulturellen Herkunft uniformiert sie Technologie und Wissen.
Menschen würden sagen:
Menschen aus einem westlichen Kulturkreis würden sagen: Das Anzapfen und Entnehmen von mehrern Fässern Treibstoff einer Lokomotive sei "stehlen", aber was bedeutet es hier?
Kommentar/Legende
Die Reise selbst folgt aber einer Intention, sie ist zielgerichtet. Bewegung ist Mittel zum Zweck, künstlerische Ereignisse wiederum vieler kultureller Räume in einen anderen zu transportieren. Kunstgegenstände, Boxes, Repräsentanten der Künstlerinnen aus verschiedenen kulturellen Räumen wechseln selbst von einem für sie bereits fremden Kulturraum in einen weiteren. Die Träger dieses Transportes verschieben den gewohnten in den ungewohnten Raum, sie erzeugen eine "künstliche Situation", kontextuale Raumverschiebungen.
Die Kamera
sucht das Dinghafte, es ist unabhängig von einem kulturellen Blickpunkt stets gleich.
Das Subjekt
sieht seine Sicht, während der Transgression transportiert es seinen kulturellen Bezugsrahmen mit und unterwirft während des Ineinanderschiebens der bestehenden Kulturen das Gesehene stets dieser Disposition. Es ist die subjektive Sicht einer mitteleuropäischen Künstlerin. Die adäquate Leseart ist die einer entsprechenden Person.
Die Theorie
sieht von außerhalb dieses Bezugssystems. Sie ist intersubjektiv und interkulturell. Ihre Leseart ist unabhängig von Subjekten und Kulturen.
Die künstliche Teilung der Sichten versucht den Kontextverschiebungen dieser multivariaten Transgression zu folgen, um damit dem Wesen dieses Mail Art Projektes zu entsprechen.Diese unterschiedlichen Lesearten sind wiederum in einem interkulturellen Raum, dem Internet, als www-pages präsent.