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Ich bin im letzten Moment "auf den Zug aufgesprungen" - als Beobachterin und doch gleich mitten im Geschehen. Eine große Gruppe hat sich am Bahnsteig versammelt. Ich kenne fast niemanden. Ich klammere mich an meiner Videokamera fest. Pressestunde. Ansprac hen, Erklärungen, Versprechungen, Glückwünsche... - Was für ein Aufruhr um ein paar Vitrinen voller kleiner bunter Holzschächtelchen (boxes)!
Wer ist "wir"? Ich habe es bald herausgefunden: Doris, Veronika und Eva sind die drei Künstlerinnen, weiters sind da noch Wolfgang, der Fotograf, Karl, der Computerfachmann sowie Klaus und ich, die Beobachter. Also sieben - die böse Sieben, die Sieben Rab en, die Sieben Freien Künste, die Sieben Weltwunder, der Zug der Sieben gegen Theben - was auch immer, auf jeden Fall Sieben auf einen Streich. Und an welche Grenzen - äußerlich oder innerlich - werden wir mit den boxes stoßen? Wir wissen es noch nicht.
Ein fixer Zeitplan ist für den Transport festgelegt. Aber schon bei der Abfahrt wird mir klar: Wir befinden uns in einem dynamischen Prozeß - unvorhersagbare Faktoren setzen unseren Plänen Grenzen. Zwanzig Minuten Verspätung bei der Abfahrt. Woher nehmen wir die Gewißheit, daß wir überhaupt ankommen? Ich stelle mich auf Flexibilität ein. Verspätung ist in diesem Fall noch kein Problem. Wir werden um ca. 22.00 Uhr in Wien ankommen und fahren erst morgen weiter.
Bis Wien fahren noch mehr Leute mit, die ich nicht kenne. Ich ziehe mich zurück, mache mich mit meiner Umgebung vertraut: In meinem Abteil ist eine Vitrine mit boxes aufgehängt; jede von ihnen hat eine Geschichte für sich, jede ist ein Schmuckstück für si ch. Während ich meine "Begleiterinnen" (die boxes) im Abteil betrachte, werde ich eine von ihnen - eine, die sich öffnen oder schließen kann, die mit den Farben spielen kann und eine, die unterschiedlichste Formen annehmen kann, die man drehen und wenden kann, die sogar auf dem Kopf stehen könnte.... Langsam lasse ich alle im Zug zu Boxes mutieren - alles verschiedene boxes in einem nostalgischen russischen Waggon umrahmt von goldenen Vorhängen.
Ankunft am Südbahnhof; Weitertransport zum Westbahnhof. Eine weitere Grenze: Wir brauchen noch morgen vor der Abfahrt ein Visum für die Ukraine. Wie geht eine Gruppe, die sich kaum kennt, um 23.00 Uhr in Wien am Bahnhof mit einer solchen Belastung um? Es stellt sich heraus, daß ungeheures positives Energiepotential vorhanden ist, Flexibilität und Humor. Damit schaffen wir es, unsere Schlafplätze umzuorganisieren, Visumanträge zu vervollständigen, Paßfotos zu machen, unseren Hunger um Mitternacht bei einem dürftigen Stehimbiß zu stillen und auch noch zwei eigentlich sinnvoll gesetzte "Grenzen zu überschreiten". Die eine ist jene, daß Veronika und ich zwei Bahnhofsvorstände um 1.10 Uhr morgens überzeugen können, daß wir dringend unsere Visa kopieren müssen (das Gelände wird morgens um 1.15 Uhr geschlossen); außerdem - das erfahren wir erst später - hätten wir nicht im Waggon schlafen dürfen. Wir freuen uns über unser Management und tasten uns in der Finsternis über ein Gewirr von Geleisen an unseren Waggon heran. Er steht schon wieder an anderer Stelle. Todmüde verkriechen wir uns endlich in unsere Schlafsäcke.
Freitag, 30.8.1996
Wir haben die Nacht in einer "bewegten" Umgebung verbracht (Ankunft und Abfahrt von Zügen). Wir müssen schon um 6.15 Uhr morgens wieder aufstehen. Es gibt nur zwei Waschmuscheln, die restlichen sind von den Vitrinen mit den Boxes blockiert. Wolfgang, Vero nika, Karl und ich eilen im Schnellschritt zum Taxistand. "So schnell wie möglich zur ukrainischen Botschaft, bitte!" Eva konnte organisieren, daß dort ein Beamter für uns eine Stunde früher kommt, damit wir den Zug nicht versäumen. Aber: Wer kennt schon die ukrainische Botschaft in der Naaffgasse 23? - unser Taxifahrer jedenfalls nicht. Er hält öfter an und fragt Passanten nach dem Weg. Die Atmosphäre im Taxi wird angespannter. Wir müssen mit unseren eigenen inneren Grenzen fertig werden. Es gelingt. Wir kommen sogar um 20 Minuten zu früh an und geben uns bei einem schnellen Kaffee in einer Bäckerei einem Sprint-Relax hin. Bei der Botschaft klappt alles bestens bis uns der freundliche Beamte mit seiner Frage: "Haben Sie Ihre Visa für Weißrußland?" ein en Adrenalinstoß versetzt. Aber Veronika wurde doch mehrfach von kompetenter Stelle versichert, daß dies nicht nötig sei. Dann können wir uns ja beruhigt der Weiterfahrt widmen.
Der Zug steht noch am Bahnsteig 3. Von der Präsentation in Wien habe ich wenig miterlebt. Letzte Lebensmitteleinkäufe, ein kurzes "Do well!" von Gina, die uns bis Wien begleitet hat, und schon verschlingt uns wieder die "goldene Nostalgie".
1. Grenzkontrolle: Österreich-Ungarn. Filmen sieht man nicht gerne. Aber der Aufenthalt ist kurz: ein paar Erklärungen genügen für "grünes Licht" zur Weiterfahrt. 13.20 Uhr Ankunft in Budapest. Draußen gibt es eine "Bombenstimmung" - besser gesagt, Bombenalarm. Wir sollen am besten den Waggon nicht verlassen; die Bahnhofshalle ist abgesperrt. Unsere inneren Grenzen werden ausgelotet. Zu meiner &†uml;berraschung nehmen w ir diese ungewöhnliche Situation wie selbstverständlich hin. Auf den Bahnsteigen wimmelt es von Leuten, aber es gibt auch dort keine Anzeichen von Panik. Viele nehmen sich Zeit und besuchen die boxes. Wir befinden uns in bester Betreuung des Budapester Kulturreferats. Doris filmt eifrig. Während wir uns beraten lassen, wo wir denn essen und gleichzeitig unsere Akkus aufladen könnten, wird unser Waggon vers choben. Doris ruft: "Halt! Meine Akkus sind im Waggon!" Sie kommt zu spät. Der Waggon ist bis zur Abfahrt nicht mehr zugänglich.
Fast wären wir in den falschen Waggon gestiegen. Von außen betrachtet hat er nämlich einen Zwilling mit gleichen goldenen Vorhängen. Früher war unser Waggon ein "Außenseiter mit den goldenen Vorhängen und fremden Schriftzeichen", jetzt fügt er si ch harmonisch in eine Reihe von Waggons mit cyrillischer Aufschrift ein. Bei uns hat sich im Laufe der Zeit schon eine Art "Wohnung" herauskristallisiert: Jede/r von uns bewohnt ein Zugabteil, außerdem gibt es ein WC mit Waschgelegenheit, einen "Presserau m" und eine Speisekammer. Ich schlafe in der Speisekammer und fühle mich dort sehr wohl. Abfahrt von Budapest laut Plan um 16.15 Uhr. Alle schlafen erschöpft ein.
Um 18.00 Uhr wache ich auf. Mit Rumkugeln trage ich zur allgemeinen Stimmungsaufheiterung bei. Selbst bei unseren russischen Begleitern konnte ich damit das "Eis zum Schmelzen bringen". Meine Rumkugeln, der Nußkuchen und meine spärlichen russischen Phrase n, die ich mir gerade eine Waggonlänge lang merke, bringen sie zum Schmunzeln. Es dauert nicht lange und wir bekommen von ihnen heißen Kaffee in Nostalgiegläsern (Gläser in verschnörkeltem Silberbehälter). Plötzlich stürmen Doris und ich zur Kamera. Da! Das Klischeebild: die ungarische Puszta mit schwarz-weißen Kühen! Zu spät! Das B ild ist weg, einfach vorbeigezischt. Statt dessen sehen wir so weit das Auge reicht verdorrte Sonnenblumen und Maisfelder, die bald von der untergehenden Sonne in warmes Licht gehüllt werden. Ich beschließe, auf der Zugfahrt jede Box zu "besuchen" und beg inne sie zu katalogisieren. Details kommen zum Vorschein, die ich vorher nie gesehen habe. Mir wird bewußt: die boxes haben Geschichte. Sie beginnen zu leben (Sad People aus Mexiko, The Fish aus Frankreich, Arrividerci Roma aus Italien, Suffering aus Viet nam, Keep Pacific Nuclear Free! aus Australien, Global Vision aus den USA und viele andere).
Samstag, 31.8.1996
Chop - die Grenze zwischen Ungarn und Ukraine. Es ist 1.00 Uhr morgens. Aufenthalt voraussichtlich drei Stunden. Unser Waggon wird verschoben und gehoben und wieder verschoben und gehoben... umgestellt auf die neuen Gleisabstände (10 cm breiter). Wir sind alle wach und äußerst beschäftigt, denn die ukrainischen Grenzformalitäten sind besonders umfangreich (Ausfüllen von Devisen- und Zollerklärungen). Die Atmosphäre ist freundlich; die Beamten sind hilfsbereit, denn wir können die cyrillische Schrift nicht lesen. Einer unserer russischen Begleiter scheint sehr gut aufgelegt zu sein. Er lacht und erklärt mir, daß sowohl der Zuganschluß als auch die Zollbehörden Probleme bereiten werden. Ich kann diesen "Humor" nicht ganz verstehen, aber wenn man die Sprache nicht kann... Wolfgang fotografiert (wenn es sein muß aus der Hüfte), und Klaus filmt. Zwischendurch vernehme ich immer wieder verzweifelte Rufe von Eva, die mit fundamentalen Problemen kämpft: "Ich brauche ein WC!" Keiner schenkt ihr Beachtung. Wenn der Zug still steht, wird das WC immer abgesperrt. Wir stehen nun schon sehr lange in Chop zwischen Kränen und Scheinwerferlicht. Der Waggonboden vibriert von den Werkzeugen und Maschinen, mit denen die fleißigen Arbeiter versuchen, sich im Scheinwerferlicht bei der Montage zurechtzufinden. Plötzlich wird im Waggon das Bett von Klaus hochgeklappt: Wir entdecken darunter den Geheimzugang zur eisernen Unterwelt.
2.00 Uhr früh: Noch immer in Chop. Neue Befragung - einer dieser Zollbeamten spricht Deutsch. Wieder werden die Zollpapiere verlangt. Es scheint tatsächlich Probleme zu geben. Es folgt eine lange Diskussion unter den Beamten. Dann endlich ein erlösender K ommentar auf Deutsch: "Gut, auf Wiedersehen, gute Reise." Wir bekommen einen Stempel auf das Zollformular.
2.30 Uhr am Morgen: endlich können wir schlafen. Der Zug rollt. 6.00 Uhr am Morgen: Wo bin ich? Saftige Wiesen, Kühe, Ziegen, Gänse, Menschen mit Sense bei der Arbeit und dazu die Morgensonne. Verschlafen greife ich zur Kamera. Diese einzigartige Stimmung ist schwer festzuhalten. Ich bin in meine Kindheit zurückverset zt: Das Heu ist hier nicht mehr wie in Ungarn maschinell in zylindrische Rollen gepreßt, sondern noch mit der Heugabel zu Haufen aufgetürmt. Weiters fallen mir alte Traktoren, ungepflasterte Wege und Menschengruppen mit Sensen auf. Die Neugier hält mich wach. So geht es wohl auch Wolfgang, der mich gut gelaunt anlächelt. Wie heißt diese Station? Ich nehme einen Stift und male: CTP (sstrij). Wolfgang, unser "Schnelldenker" hilft mir beim Filmen (Linksschwenk, Rechtsschwenk): "Schau da kommt ein Ziegelwerk - und eine Ziege!" "Ja, eine Ziegelwerkziege!"
Wir nähern uns der bedeutendsten Stadt der Westukraine: L«vov (früher: Lemberg). Wolfgang kommt mit einer Hiobsbotschaft von unserem russischen Begleiter: 7 Stunden Aufenthalt - wir haben den Anschluß versäumt. Das bedeutet 12 Stunden Verspätung in St. Pe tersburg. Das bedeutet weiter, daß die geplante direkte Datenübertragung von St. Petersburg nach Graz nicht stattfinden kann. Also doch Probleme. Erstmals wird die Situation sehr ernst und etwas gespannt. Es werden sowohl äußerlich Grenzen gesetzt, als au ch innerliche Grenzen herausgefordert. In den fixen Zeitplan hat sich eine Dynamik eingeschlichen, die unvorhersehbare Prozesse auslöst. Aber dort, wo das Chaos kulminiert, entsteht Bewegung und Kreativität. Neue Ordnungen müssen geschaffen werden, eine U mstrukturierung ist notwendig. Da befinde ich mich nun mitten in selbstorganisatorischen Prozessen und bin selbst ein Teil davon. Bis jetzt habe ich sie nur in Vorlesungen kennengelernt, aber jetzt fühle ich mich unmittelbar davon erfaßt. Kreativität, Fle xibilität, neue Organisation ... und das alles mal sieben - alles ist in Bewegung. Alle sind gefaßt, aber ernst. Lösungen werden gesucht. Telefonate nach Graz sind notwendig, wenn möglich e-mail schicken, hat die Universität vielleicht samstags offen, Sas cha muß in St. Petersburg verständigt werden, wir müssen Geld wechseln usw. - Kommen wir überhaupt jemals in St. Petersburg an? Jetzt müssen wir wirklich "beyond borders" agieren - in jeder Hinsicht. Während die anderen ausschwirren, um so viel wie mögli ch zu erledigen, bleibe ich im Zug bei den Begleitern und "bewache" unser teures Equipment mit (immerhin gibt es da Videokameras, einen teuren Computer, Mikrofone usw.). Ich lasse alle Abteile bis auf den Presseraum und die Speisekammer versperren. Leider habe ich Lesematerial vergessen, daher "klaue" ich Klaus den "Tod in Venedig" (St. Petersburg wird auch als "Venedig des Nordens" bezeichnet). Draußen scheint die Sonne. Mehrmals nicke ich ein bis mich der "Tod in Venedig" endgültig in den Schlaf zwingt (ich habe meine physischen Grenzen erreicht).
Meine Neugierde läßt mich aber nicht lange rasten. Ich beobachte und filme das Geschehen am Bahnhof. Mir fällt die "Schwarze Spinne" ein als ich bei einem gerade eingefahrenen Zug beobachte, wie aus den geöffneten Türen die Menschenmassen hervorquellen - wie die vielen kleinen Spinnen, die - gerade geboren - sich in Gottfried Kellers Erzählung über die ganze Bettdecke (hier: über die Gleisanlage) ausbreiten. Alte Menschen schleppen schwere Säcke, Tomaten rollen aus überfüllten Schachteln, ausgebeulte Jut esäcke verraten die Konturen von Kürbissen und Kartoffeln, Stöße von Eierkartons werden balanciert... jeder hat es eilig in die Stadt; trotzdem - die Leute helfen einander, wenn zum Beispiel die Rollen vom Gepäckwagen in einem Gleis steckenbleiben oder für jemanden eine Last allzu schwer ist. Es ist mir ein Rätsel wie dies alles im Zug Platz gehabt hat. Inzwischen ist mein Drang, endlich in ein WC zu kommen fast unerträglich. Im Zug ist es gesperrt, die Begleiter schlafen und für das WC im Bahnhof habe ich kein Geld. Zum Glück kommt endlich das restliche Team - mit der richtigen Währung (Kupons) und den neuesten Nachrichten: Alle wichtigen Telefonate konnten erledigt werden, bei einem Friseur werden gerade die Akkus aufgeladen, und um 15.30 Uhr gibt es eine Spontan-Pressekonferenz. Also: Beste Nachrichten unter schlechtesten Bedingungen. Ich komme endlich zu WC und Kaffee - beides ist gleich teuer: je 50.000,-- Kupons bzw. 3 AS (Hat dieses gleiche Preisniveau zu tun mit derselben &†uml;berkategorie: "Genußmittel", mit einer Abwertung des Kaffees oder mit einer Aufwertung der Frauenarbeit am WC ?).
Im Ausstellungswaggon wird ein ausführliches Interview durchgeführt. Aber: Achtung beim Gebrauch des Wortes "Nationalismus" - dieser Begriff ist aufgrund der neuesten politischen Entwicklungen hier positiv besetzt.
Abfahrt: 17.30 Uhr - ich frage mich, worauf wir als nächstes zurollen. Draußen fließt weiter die Vergangenheit vorbei: Leute, die weite Wegstrecken auf naturbelassenen Wegen zu Fuß zurücklegen. Sie gehen gerade von der Arbeit nach Hause; Pferdefuhrwerke, Kühe und viele weiße Gänse schmücken die Felder. Wenn hin und wieder ein Auto auftaucht, läßt es eine dichte Staubwolke hinter sich. An den Stationen kommen immer wieder Verkäufer - vorwiegend Frauen und Kinder - vorbei, die Zwetschken, Äpfel, Fische, Kno blauch- und Zwiebelketten anbieten. Wir kaufen Zwetschken, die uns einer unserer Begleiter gleich direkt auf eine Bank leert. Er gibt den Eimer der Frau zurück und schon fährt unser Zug wieder weiter. Die meisten von uns gehen jetzt schlafen, denn um 1.00 Uhr früh haben wir schon wieder eine Grenzkontrolle zu erwarten. Doris und ich gestalten eine box für Sasha, denn er hat alles für die &†uml;bertragung in St. Petersburg vorbereitet. Wir kommen kaum zum Schlafen. Zweifel steigen auf: Wird uns jemand um Mitter nacht vom Bahnhof abholen? Wird Polina, die russische Kuratorin auch wirklich die boxes übernehmen? Wird sie überhaupt so spät kommen?
Sonntag, 1.9.1996
Um 0.45 Uhr gibt es wieder eine Grenzkontrolle bei Stolin (Ukraine: Ausreise). Was ist hier los? Die Zollpapiere werden abgenommen, nicht mehr zurückgebracht, und der Zug fährt ab. Das kann ja noch heiter werden. Meinen Paß habe ich zum Glück nach einiger Zeit wieder bekommen. Einer unserer russischen Begleiter wischt sich erleichtert den Schweiß von der Stirn und bläst die angehaltene Luft aus. Was das wohl bedeuten mag? 2.35 Uhr: Einreise in Weißrußland - kurze Kontrolle und wir rollen schon wieder weiter. 8.30 Uhr: Weißrußland - Ausreise. Ein Beamter reißt einen Teil unseres Visums ab. Jetzt sieht es aus wie von einer Maus angeknabbert. - Was passiert denn da? Junge Männer rollen Fässer aus dem Wald und holen acht Fässer Diesel aus der Lok. Verschreckte Bl icke treffen unsere Kameras. Dann gehen die Männer plötzlich in die Hocke und verstecken sich hinter langem Gras. Ein Zug fährt an uns vorbei. Kaum ist er weg, geht die Arbeit weiter: leichtes Bergabrollen leerer Fässer, mühsames Bergaufwälzen der gefüllt en und ab in den Wald damit. Mir kommen Bedenken. Womit sollen wir denn jetzt weiterfahren? Haben sie auch etwas für uns übriggelassen? Nach ca. 15 min Einreise in Litauen ohne Probleme.
VILNIUS: Die Batterie meiner Videokamera ist leer. Doris« Profikamera hat noch Reservebatterien. Sie steigt aus und filmt. Oje, das war ein verbotenes Gebäude. - Transitgelände. Ein Beamter läuft ihr nach und stoppt sie. Glück gehabt, den Film darf sie be halten, und sie darf auch wieder mit uns mitfahren - Grenzerfahrung an der Grenze - wen wundert es?
Bis jetzt hatten "die draußen" immer Sonnenschein. Heute scheint die Landschaft jedoch in Sonntagskleidung gehüllt: mich blenden die weißen Birkenstämme, die in der Sonne silbrig leuchten. Das schwarz-weiße Fell einer Kuh am Bahndamm glänzt wie neu gekauf t. Jetzt hat es der Mischwald eilig, an uns vorbeizukommen; ihm folgen bewirtschaftete Felder. Eine Frau schiebt ihr Fahrrad, auf dem eine blecherne Milchkanne meiner Kindheit hängt. - Und jetzt ein Dorf: RILJUS entziffere ich mühsam. Die runden Holzstöße - rund wie afrikanische Hütten - sind eine Augenweide. Mitten in einem Dorf liegen Kleidungsstücke am Boden und werden zum Verkauf angeboten. Nur wenige Ladas sind unterwegs. Ich lehne im Zug an der warmen Fensterscheibe und lasse mich von den Sonnenstra hlen verwöhnen.
12.00 Uhr Mittag: Grenze Litauen - Lettland (Turmantas). 10 Minuten Aufenthalt. Nichts passiert. Sumpf, Seen und Fischer prägen das weitere Bild der vorbeifahrenden Landschaft. Ich katalogisiere die boxes weiter.
16.30 Uhr Grenze Lettland - Rußland. Ich habe Zeit, den Namen der Station abzumalen: PYTALOVO. Die Zollbeamten treffen eine gut gelaunte Gruppe an, die schon seit Stunden von einer schönen Landschaft verwöhnt von Sonnenstrahlen gestreichelt wurde. Die Zw ischenfälle der letzten Tage sind fast vergessen und akzeptiert. "Dokumenta!" schreit ein ernster Mann in die Idylle. Kein Problem. Er bekommt sie. Er sieht sich das Visum an und bekommt einen Lachanfall. Was soll das denn sein? Langsam klärt sich alles u nd wir erkennen, daß wir in einer äußerst prekären Lage sind. Die Beamten in Weißrußland haben das falsche Stück Papier vom Visum abgerissen. Wir haben kein Ausreisevisum mehr. Der Beamte schüttelt seinen Zollkopf und zeigt diesen abgeknabberten Zettel se inem Kollegen. Er verschwindet in einem Büro - samt meinem Paß. Der ist jetzt also auch weg. Alle anderen haben ihn behalten dürfen. Es braut sich was zusammen um die weißen Zettel bedruckt mit einer Schrift, die wir nicht lesen können. Ich möchte wissen, zu welchem Amt wir in St. Petersburg gehen sollen und entdecke ein großes Manko im Berlitz-Sprachführer: Es kommen zwar Wörter wie Puderquaste vor, aber solche wie Amt oder Behörde sind nicht zu finden. Schließlich dürfen wir einreisen, aber nur, weil ei n Beamter in Weißrußland vergessen hat, das Einreisevisum abzureißen - ah, wir hätten doch ein Zweifachvisum für Rußland gebraucht?
Eva, Doris und Wolfgang gehen wieder auf "Kundenfang". Sie besuchen die anderen Waggons, verteilen Broschüren und laden die Leute in den Ausstellungswaggon ein. Unsere russischen Begleiter sehen das gar nicht gerne. Ich mache auch einen Zugausflug. Da wir d mir der Unterschied zu den anderen Waggons bewußt: Dort sitzen die Leute dicht gedrängt auf ihren Plätzen, essen aus mitgebrachtem Steingutgeschirr, lesen oder schlafen.. Manche sehen mich verwundert an. Die Waggons sind eigentlich sauber, aber Teppich gibt es dort keinen - und natürlich auch keine boxes. Mir wird klar, daß wir im Vergleich zu den anderen Waggons in einer Luxuskarosse sitzen. Repräsentieren wir mit den boxes den reichen Westen, der nun schon seit Stunden Menschen provoziert, die um ihr tägliches Brot kämpfen? Mich beunruhigt dieser Gedanke. Nein, die boxes wollen anderes. Sie zeigen dem Betrachter ihre Vielfalt, treten aus ihrer Beengtheit heraus, fordern Kommunikation - grenzüberschreitend, Länder neben Länder. Die boxes machen auf si ch aufmerksam, sind ständig in Bewegung und ziehen weltweit eine Spur der Hoffnung, daß Interaktion möglich ist und Grenzen überwindbar sind. Ich katalogisiere die boxes fertig, packe meine Sachen und realisiere bald: Das scheinbar Unmögliche ist wahr gew orden - um Mitternacht kommen wir erschöpft und halb illegal, aber in guter Stimmung mit den boxes am Zielbahnhof St. Petersburg an.
Hermine Posch hposch@iaik.tu-graz.ac.at